Ein Augenzeuge berichtet aus dem Iran
Der Fluss des Lebens führt kein Wasser mehr. Wenn man Bahman N. zuhört, meint man manchmal, in seinen Schilderungen schimmerten besonders blumige Bilder durch. Dabei berichtet er nur, was er erlebt hat, als er im Sommer 2022 vier Wochen lang in den Iran reiste, wo er seine Familie in Isfahan besuchte. „Einen Tag, nachdem ich zurückgekehrt war, ging die Nachricht vom Tod Mahsa Aminis um die Welt“, erzählt der Gewerkschaftskollege. „Das entfachte die Flamme.“ Jetzt verfolgt er übers Internet, wie es seinen Angehörigen in Iran ergeht.
Zum Gespräch bringt der junge Mann „Gaz“ mit, eine Spezialität aus seiner Heimat. Das Konfekt besteht aus Eischnee und Honig, angereichert mit dem Saft der Tamariske, mit Mandeln und Rosenwasser. Der feine Duft, den es verströmt, ruft Bilder kultivierter Lebensart wach, Bilder reich geschmückter Moscheen, von Palästen, Brücken und Gärten. Isfahan mit seinen islamischen Baudenkmälern regt seit jeher die Phantasie an.
Doch die Millionenstadt sitzt im Wortsinn auf dem Trockenen. Der „Lebensspendende Fluss“ Zayandeh Rud, der durchs Zentrum fließt, erhält die meiste Zeit zu wenig Wasser, weil es vor der Stadt für die Bewässerung der Felder abgezweigt wird. „Seitdem der Fluss ausgetrocknet ist, kann ich dort nicht mehr leben“, bekennt Bahman.
Der gebürtige Iraner studiert seit 2019 in der Bundesrepublik, nebenher arbeitet er als Informatiker. Die Qualifikation dafür, einen Bachelorabschluss in Informatik, erwarb er noch in seiner Heimat, arbeitete dann ein paar Jahre in der Ölindustrie. Sein Heimaturlaub im Sommer war der erste Besuch nach der Pandemie, die erste Reise nach drei Jahren.
„Die Lage im Land ist deutlich schlimmer geworden“, erklärt der Informatiker, „sowohl wirtschaftlich als auch politisch.“ Er berichtet von einer angespannten Grundstimmung: Die Menschen geraten schnell in Streit, die oftmals in Gewalt umschlägt. „Wenn du einkaufen gehst und die Preise sind seit dem Vortag schon wieder gestiegen, dann ärgern sich die Leute und reagieren aggressiv.“
Bahmans Familie spürt die wirtschaftliche Misere am eigenen Leib. Sein Vater, bei dem die Kinder aufwuchsen, hat gerade das Rentenalter erreicht. „Die Rente ist niedrig“, erzählt der Sohn, „also versucht er, weiterhin als Elektriker zu arbeiten.“ Bahmans Mutter leidet unter einer chronischen Krankheit, aber die Krankenversicherung übernimmt nur ein Drittel der Kosten für Behandlung und Medikamente. Den Rest muss sie selber aufbringen. Der Sohn hilft, so gut er kann. „Hundert Euro reichen, um in Iran die Miete zu bezahlen“, sagt er.
Alle, die er kenne, seien gegen das Regime, bekräftigt Bahman. Er hält per Videochat Kontakt mit Freunden und Verwandten. Sie erzählen von Demonstrationen überall im Land, „in ganz Iran herrscht Chaos.“ Autofahrer hupen, um lautstark ihren Protest anzumelden, sie blockieren mit ihren Wagen die Straßen, damit die Polizei nicht durchkommt. Die Demonstrationen werden über das Internet organisiert. „Alle nutzen Instagram, weil es das einzige Medium ist, das nicht gefiltert wird.“ Bahmans Stiefbruder ist politisch sehr aktiv, er geht zu Demonstrationen, schreibt auf Twitter. Er berichtet immer wieder von Freunden, die verhaftet wurden. „Ich kenne viele davon“, sagt Bahman; er erwartet jeden Tag, dass auch der Bruder festgenommen wird. „Aber sie können nicht alle verhaften.“
In Iran bestehe seit langem eine Kluft zwischen der Regierung und der Bevölkerung: „Die Herrschenden haben sich seit 30 Jahren nie um die Mehrheit der Menschen gekümmert.“ Lediglich die Profiteure des Status quo unterstützten die Regierung. „Ich glaube nicht, dass sie alle das Regime lieben.“ Wenn sie keinen persönlichen Vorteil mehr aus den bestehenden Verhältnissen ziehen könnten, werde das System zusammenbrechen, vermutet Bahman. Er befürwortet daher Sanktionen des Auslands: „Sie schwächen das Regime, das haben wir gesehen.“ Die Menschen in Iran bräuchten jetzt Unterstützung von außen.
Es ist erstaunlich, wie gut der Student Deutsch spricht. „Es gibt so viele Verben!“, klagt er. Als er vor drei Jahren in die Bundesrepublik kam, stürzte alles auf einmal auf ihn ein: Er musste seine Sprachkenntnisse nachweisen, er brauchte eine Wohnung, er wusste nicht, wie er Arbeit finden sollte. „Es war die anstrengendste Zeit meines Lebens.“
Aber in Iran konnte er nicht länger bleiben, um weiter zu studieren. „Man kann seine Ansichten nicht frei äußern; ich spürte, dass das einen negativen Einfluss auf mich ausübt“, erinnert er sich. Auch in Deutschland dachte er anfangs noch, er müsse für sich behalten, wenn er mit irgendetwas nicht einverstanden war. „Ich musste erst lernen, meine Meinung zu vertreten“, bekennt der Gewerkschaftskollege. „In Iran haben die Leute immer geschwiegen, weil sie Angst haben.“
Für den Augenblick scheint das vorbei zu sein. Besonders die Frauen halten nicht länger still, nachdem sie jahrzehntelang unterdrückt wurden. „Die Frauen sind richtig mutig“, sagt Bahman. „Es ist eine Frauenrevolution, aber sie geht alle an.“ Auch seine Schwestern sind in den sozialen Medien aktiv. Sie gehen sogar auf Demonstrationen, heimlich. Der Vater soll nichts davon erfahren. Er hat ein schwaches Herz, erklärt der Sohn.
Als Kinder gingen die Geschwister im Zayandeh Rud baden, im Fluss des Lebens, der damals noch ausreichend Wasser führte. „Ich habe schöne Erinnerungen daran.“ Wenn er in seiner neuen Heimat in der Lahn baden geht, steigen Bilder seiner Kindheit am Fluss in ihm auf. Bahman denkt dann an seine kleine Schwester, die in Isfahan geblieben ist.
Die persönlichen Angaben sind geändert. Mit Bahman N. sprachen Juko Marc Lucas und Johannes Scholten.
Zum Weiterlesen: DGB setzt sich für inhaftierte Gewerkschafter im Iran ein (Juli 2022)