Parolenprüfstand: „Trinkgeld gehört dazu“

Wer sagt’s: Jägermeister in seiner Imagekampagne 2022/23

Klingt wie: Schwulenhymne von Marianne Rosenberg („Er gehört zu mir“, 1975)

Soll heißen: Egal, wie schlecht Servicekräfte in der Gastronomie bezahlt werden – Hauptsache, die Gäste spendieren einen Lohnaufschlag.

Nicht zu verwechseln mit: „Die Nacht braucht Meister“ (Vorläuferkampagne 2021), Miss-Arschgeweih-Wahl (Jägermeister-Kampagne 2004), „Göring-Schnaps“ (zur Markteinführung 1935)

Mitreißfaktor: Smudo tut jedenfalls begeistert („‘Stimmt so‘ stimmt immer“). Gehört der nicht eher zur Fanta-Fraktion? Hoffentlich kriegt der Vermarkter der gefloppten Luca-App mehr als bloß ein Trinkgeld für die Unterstützung der Kampagne.

Überzeugungskraft: Naja, Kinderstube lässt sich schlecht nachholen.

Anwendbarkeit: Immer, wenn man die eigene Marke mal wieder ins Gespräch bringen will

Zielt auf: Nachtschwärmer mit weitem Herzen und Restgeld im Portemonnaie (nachdem der Kräuterschnaps bezahlt ist, versteht sich)

Dagegen ist: Die Küchenmannschaft, wenn sie nichts aus der Trinkgeldkasse abbekommt

„Man kann sich auch zum Trinkgeld schon bequemen. / Nur wenig Kellner schießen, wenn sies nehmen“, schrieb Theobald Tiger, also Kurt Tucholsky 1922 in der „Weltbühne“ in seinem Gedicht „Rückkehr zur Natur“: Der Titel bezeichnet die Restauration der althergebrachten Verhältnisse nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches. Nur vier Jahre nach der Revolution konstatierte Tucholsky, dass Militarismus und Autoritätsgläubigkeit wieder die Oberhand gewannen. Trinkgeldgeben erschien als Geste der Herablassung, die den materiell abgehängten Dienstboten ihren Platz zuwies: Wir hier oben – ihr da unten.

Hundert Jahre später trommeln ältliche Hip hop-Hipster aus Stuttgart im Auftrag der Magenbitterdestillerie Mast für Almosen als Lohnersatz. „Rückkehr zur Natur“ eben. Wenn die Betroffenen mal bloß nicht darauf kommen, gemeinsam für einen auskömmlichen Tarif zu streiten!